Folge 10: Dezember 2023
Wie ich dieses Jahr plötzlich auf Hawaii war..
Man müsste mal…
… mehr Zeit mit Musik verbringen, einfach um der Musik willen. Wieder viel mehr Musik machen, am Liebsten mit ganz viel Spaß und ohne Erfolgsdruck, ohne anstehenden Job. Raus aus dem Alltag. Neues sehen, neue Menschen kennen lernen, reisen.
Man müsste … weniger unterrichten, weniger schlecht bezahlte Jobs machen, die viel Energie verbrauchen. Nicht immer nur funktionieren und auf den letzten Drücker alles fertig kriegen und immer Stress haben. Rausfinden, was für Musik ich wirklich gerade machen möchte. Wirklich in Kontakt mit mir selbst zu sein, wenn ich singe. Mich bewegen können. Machen, was wirklich meins ist, nicht zwangsläufig alles, was ich gut kann.
Diese und noch viele ähnliche Gedanken mehr beschäftigen mich eigentlich schon immer. Sie stehen mehr mal weniger im Vordergrund, je nachdem was sonst grad so los ist. Meistens habe ich gar keine Zeit dafür. Die to do Liste wird immer länger und es kommen (zum Glück! ) immer wieder spannende und interessante Aufgaben um die Ecke, die meine Zeit und Energie brauchen. Und ich genieße meistens jede einzelne von ihnen und bereue gleichzeitig, nicht jeder einzelnen Aufgabe mehr von mir widmen zu können.
Und dann kommen auch mal wieder ruhigere Zeiten, in denen die „man müsste mal“s wieder um die Ecke kommen. Aber dann ist ja auch immer noch genug los, so dass es meistens bei einem Abend der Gedankenspinnerei bleibt.
Was ich liebe
Ich kann mich ja auch echt nicht beschweren – und ich bin auch soooo dankbar für alles, was ich erleben darf. Meine wunderbare Familie. Das größte Geschenk.
Mein Beruf, den ich in so vielen Bereichen ausführen kann. Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen und in die Musik einzutauchen und sie zu gestalten. Und damit Menschen zu berühren- und selbst berührt zu sein.
Ich liebe es, zu unterrichten und neue Türen zu öffnen. Die Begeisterung zu spüren für das was wir da machen: bei mir und bei allen.
Neue Sachen zu entdecken und zu lernen. Bass spielen, Kölsch lernen, fotografieren, mit meiner Loop-Station zu experimentieren. Mit Musikerkolleg*innen zu singen und zu spielen. Das ist so erfüllend.
Ich liebe es, mit meiner Familie zu sein.
Ich liebe es auch, unterwegs zu sein. In fremden Städten oder Ländern zu sein.
Aber oft habe ich das Gefühl, für keinen der einzelnen Bereiche genug Zeit und Energie zu haben. Ich muss immer schon wieder weiter. Es ist nie genug Zeit!
Und dann, fast zufällig, bin ich im Sommer 2022 in Perugia gelandet, bei einem 4 tägigen Workshop von Rhiannon. Mit und von ihr habe ich vor 15 Jahren schon gelernt, über Improvisation und Circle Singing. Das habe ich zu der Zeit auch viel gemacht, in meinem Studium und auch selbständig. Habe regelmäßige Improvisations-Abende in Köln Nippes veranstaltet. Und dann sind andere Interessen in den Vordergrund gerückt: die CVT Ausbildung und dieser ganze Bereich der Stimmbildung, der mich begeistert hat und in den ich dann voll eingetaucht bin und Workshops und Fortbildungen gegeben habe. Toll! Auch erfüllend! Dann ein eigenes Album machen. Und dann die Kinder. Und immer nebenbei arbeiten. Alles toll, alles viel.
Perugia 2022
Dann war ich in Italien – vier Tage auf einer idyllischen Farm im Nirgendwo und es gab nur eine einzige Aufgabe: singen. Mit den anderen. Und ansonsten: tolles Essen, Natur, Sonne, Gespräche.
Und schon in der allerersten Session war mir klar: DAS ist jetzt dran.
Ich hatte das vergessen. Wie erfüllend es ist, sich im eigenen Körper zu Hause zu fühlen. Daraus die Stimme zu erheben. Und zu tun, was nicht geplant ist, was keine Deadline hat, was nichts muss außer der Musik zu dienen. Im Kontakt mit den anderen zwanzig Sänger*innen. Zu merken, was ich alles kann, was meine Skills sind. Zu fragen, wo meine Wurzeln sind und was sie mit mir zu tun haben, hier und jetzt. Diese ursprüngliche Freude zu fühlen, wenn ich singe und mich bewege.
Und selbst da, als meine Freundin die Idee in den Raum warf, „All the way in“ zu machen, das Jahresprogramm von Rhiannon, war meine erste Reaktion: Quatsch, auf keinen Fall! Das ist voll teuer und kostet ganz viel Zeit – das kann ich mir nicht erlauben.
Zum Glück habe ich mich umentschieden.
EXTEND!!
Rhiannon
Your BODY, your Strength, your IMAGINATION
Was machen wir da?
20 Menschen aus der ganzen Welt treffen sich für ein Jahr lang, um miteinander mit der Stimme zu improvisieren. Dreimal physisch und dazwischen virtuell.
Die drei Arbeitsphasen sind über den Globus verteilt: auf Hawaii, in Italien, in Kanada.
Jeden Tag haben wir 5 Stunden Unterricht mit Rhiannon. Wir üben miteinander und voneinander. Musik kreieren, darauf reagieren, Basslinien singen, Rhythmen, Harmonien.
Melodien erfinden mit und ohne Sprache oder mit Fantasiesprache. Und dann die andere Ebene: Was hat die Musik mit mir zu tun? Wo kommt die Idee her? Dient sie der Musik? Oder meinem Ego? Höre ich meinen Mitmusiker*innen wirklich zu? Wie schaffe ich es, immer JA zu sagen zu ihnen und zu der Musik, auch wenn ich einen anderen Plan im Kopf hatte? Wie werde ich diese Pläne los, wie die inneren Kritiker? In den Zwischenzeiten haben wir Hausaufgaben. Überoutinen, um an der Verbindung dran zu bleiben. Einen Song über unsere Vorfahren schreiben. Skalen und Basslinien üben. Mit Fremden improvisieren.
Hawaii
Das erste Treffen ist auf Big Island / Hawaii.
BÄÄÄM.
Das ist schon soooooo jenseits von allem Vorstellbaren, dass allein die Entscheidung dafür, die Organisation, das Geld etc. dem ganzen eine Ernsthaftigkeit gibt, die ich der Musik lange nicht mehr gegeben habe.
Ich habe mich gar nicht vorbereitet. Es war gerade der größte Stress: Tour, Hochschulen, Konzerte, Unterricht, Workshops und dazu ein wahnsinnig schlechtes Gewissen. Gedanken wie: was erlaube ich mir? Wie kann ich hier alles stehen und liegen lassen und nach Hawaii fliegen? Die Familie alleine lassen? Ich habe mir kaum Vorfreude erlaubt – und hätte man mich die Tage vor Abflug gefragt: ich hätte am Liebsten alles wieder abgeblasen.
Die Insel ist mitten im Meer. Wirklich weit weg vom Festland. Das weiß man natürlich, aber dieses Gefühl, so weit weg zu sein und so mitten im Meer – das macht was. Ich fühlte mich irgendwie machtlos. Den Naturgewalten ausgeliefert. Mitten im Meer, umgeben von Vulkanen. Ich kleiner Mensch. Ehrfürchtig.
Alles ist so üppig. Und so überwältigend. Und so verschwenderisch. Ständig sieht man Regenbögen! Einer schöner als der andere! Und dann die erste Riesenschildkröte. Ahhhh! Und dann gleich mehrere! Und dann ist dahinten plötzlich auch noch ein Wal! Die Pflanzen. Die Früchte! Strände!
Und dazwischen überall versteinerte Lava. Die immer wieder klar macht: hier ist die Natur die Chefin. Auf Big Island heisst die Pelé, die Feuer- und Vulkangöttin. Die haben wir auch besucht. Nachts, bei leuchtender, brodelnder Lava.
Man wird so ehrfürchtig bei so viel Großem. Und es ist so weit weg von allem Gewohnten. Und trotzdem so nah dran am Menschsein. Als Teil der üppigen Natur.*
Und in all dieser Üppigkeit machen wir eins: singen. Und reden. Und essen. Und schwimmen. Und uns mit all dem beschäftigen, wofür sonst kein Raum und keine Zeit ist.
Musikalische Routine
Rhiannon lebt hier auf einer Farm auf einem Hügel, entfernt sieht man unten ein Stück Meer, dazwischen viel Grün. Das Studio liegt noch ein kleines Stück höher. Es gibt einen Holzboden, Fenster und Türen zu allen Seiten und es geht immer ein kleiner Wind.
Wir treffen uns jeden Tag morgens um 10 im Studio, aus dem schon Musik tönt. Wir kommen an und bewegen uns. Erstmal für uns, dann kommen wir langsam in Kontakt. Wir machen Übungen aus ihrem Vocal River Buch, die ich alle schon kannte. Und trotzdem: mehr braucht es nicht. Eine Form und Struktur, um Skills und Spirit zu schärfen und zusammen zu bringen. Heisst: der eigenen Intuition folgen, aber dabei nicht beliebig werden. Wenn ich eine Basslinie singe, dann muss sie auch grooven. Wenn schon jemand Melodien singt; was kann ich hinzufügen? Was fehlt noch? Rhythmus? Story? Bewegung? Harmonie? Disharmonie? Üben, das aber nicht zu planen und zu durchdenken, sondern intuitiv zu ergänzen.
Die Übungen sind manchmal Duette, manchmal Quintette, manchmal ein Tutti mit allen zusammen. Manchmal geht es um Sprache. 5 Worte ohne Zusammenhang. Anfangen zu sprechen, ohne dass man weiß, was raus kommen wird. Sich unterbrechen, Ideen wieder los lassen. Den Körper führen lassen und musikalische Phrasen starten, die die Stimme dann nur noch vertont.
Sparkle
Es wird auch gesprochen. Fragen werden gestellt.
What ist your musical vision?
Rhiannon
Und da ist es: ausgebrochen aus dem Alltag, in dieser weiten Welt und großen Natur erlaube ich mir, groß zu denken. Was will ich wirklich mit meinem Leben anfangen? Was kann ich der Welt geben?
Wie schnell verliert man sich im Alltag, im Funktionieren, im Abarbeiten. Ich will das nicht. Nicht wenn es nicht wirklich mein „SPARKLE“ ist.
Gay Hendricks nennt das “ the zone of genius“ (aus „The big leap“). Andere nennen es FLOW. Für mich ist es das Kribbeln, die Inspiration, die ich schon in meinem letzten Blog Post Inspiration beschrieben habe. DAS.
What’s your story?
Und neben dem Wohin wird auch das Woher zum Thema. Wo kommst Du her, wer sind deine Vorfahren, was ist ihre Geschichte? Erstmal generell sehr spannend, denn die Gruppe kommt aus der ganzen Welt, mit den unterschiedlichsten kulturellen und historischen Wurzeln.
Und ich gucke auf meine Vorfahren. Stelle fest, wie wenig ich über sie weiß. Wie so oft in Deutschland. Im Großen wissen wir alles über die Nazi Vergangenheit, aber im kleinen? In der eigenen Familie? Ich wusste erschreckend wenig. Wie die meisten Deutschen in der Gruppe. Das sollte mich das ganze Jahr über noch sehr ausführlich beschäftigen. Aber dazu später mehr.
Seriously playful
Zurück zu Hawaii. 20 unterschiedlichste Menschen, die meisten professionelle Sänger*innen und Schauspieler*innen offenbaren ihr Innerstes, ihre Wünsche, ihr Zaudern, ihre Ängste, ihre Fähigkeiten und werfen sich jeden Tag immer wieder ins „kalte Wasser“. Also in musikalische Situationen, die sie nicht unter Kontrolle haben. Sondern agieren und reagieren. Das setzt unglaubliche Energien frei.
Ernsthaft an dem zu arbeiten, wo der Sparkle ist. Das ernst nehmen. Und andersherum ernsthaft spielen.
Visionen haben. Kontakt suchen. Zu sich selbst, den eigenen Wurzeln, der Vergangenheit und den Visionen. Zu den anderen. Interesse haben, Vorurteile ziehen lassen. Zum eigenen Körper. Spüren. Annehmen. Erforschen. Fordern.
Die eigene Wahrnehmung schärfen und auch hinterfragen. Was empfinde ich? Was empfinden die anderen? Wie empfinden die anderen mich? Welche Schwingungen spüren auch sie, welche sind nur bei mir? Welche Verhaltens- und Denkmuster tauchen auf, wann bemerke ich sie? Kann ich sie ändern, ihnen was neues anbieten?
Für mich ging es auch darum, bei mir zu bleiben und trotzdem offen und verbunden mit anderen. Ohne mich in ihnen zu verlieren. Und dabei die ganze Zeit wahnsinnig interessante Musik zu kreieren, die immer wieder überraschend und neu ist.
What can I give?
Die eigene Musikalität zu finden, das eigene Wesen. „What can I give“? – Was kann ich geben: der Musik, mir selbst, meinen Mitmenschen, der Welt..
Aus dem Teufelskreis von “ich müsste mal”, “eigentlich möchte ich…” “ ich würde so gerne… “ aber ich muss ja jetzt… erstmal muss ich …. ausbrechen uns zu sagen “JA! Was sonst könnte wirklich wichtig sein?! “. Und mal wirklich machen. Full on. All the way IN.
… to be continued
LINKS:
Rhiannon: www.rhiannonmusic.com
Die wunderschöne Farm in Perugia: https://www.agriturismocorniolo.com/
*(Und sieht übrigens auch schön klar die Dummheit eben dieser: wie jedes kleinste Stückchen Obst in Plastik verpackt wird und selbst im Restaurant Plastikgeschirr serviert wird. Weil es an Personal zum Spülen mangelt. Von den ganzen SUVs ganz zu schweigen… Naaja, anderes Thema)